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Veranstaltungen

14.10.2016

Vortrag

Paul Vandenbroeck
Ein gewebtes Buch

19:00 Uhr

Den Abschluss der Ausstellung Der Bakhnoug, ein gewebtes Buch bildet eine von Paul Vandenbroeck organisierte Vortrag, die sich mit der faszinierenden tunesischen Textilkunst befasst: Obwohl diese Kunstwerke der westlichen Ästhetik nach als „dekorative“ oder „angewandte“ Kunst kategorisiert beziehungsweise abgewertet werden, sind sie oftmals echte Kunstwerke, die sich durch ein großes räumliches Gespür, ausdrucksstarke Farben und übereinander gelagerte abstrakte Motive charakterisieren, die deutbar sind – zumindest durch alle, die der Berber-Kultur und ihrer Sensibilität für die Abstraktion aus weiblicher Perspektive nahestehen (die Teppiche wurden nie von Männern gefertigt). Ein Bakhnoug kann wie eine verschlüsselte, psycho-physische Autobiografie gelesen werden.

Ethik, Philosophie und Lebenseinstellung des Webers kommen in den Textilien zum Ausdruck, sie sind ein offenes und zugleich kodifiziertes Buch. Die Weberinnen schreiben ihre inneren Motive auf ihre Kleidung und tragen und zeigen sie jeden Tag in der Öffentlichkeit zur Schau (das ist, wenn man die abstrakte Schrift lesen kann), eine tägliche spannungsreiche Balance zwischen Offen- und Geschlossenheit. In der traditionellen Kultur gibt es keine Offenheit in der gesprochenen Kommunikation. Man soll nicht innerliche Gefühle verbal äußern. Der Sinn der Verschlossenheit wird an sich als Würde betrachtet. Dennoch war es erlaubt oder wurde sogar gefördert, Gedanken, Emotionen und Gefühle im Akt des Webens mitzuteilen. Das ist ein bemerkenswertes Paradoxon: wie eine geschlossene und abgesonderte Gemeinschaft emotionale und intellektuelle Offenheit erlaubt, kodiert in abstrakten und geometrischen Formen. Viele dieser Konzepte sind grundsätzlich Paradoxe, nicht auf logische/diskursive, sondern auf eine empirische (nicht: experimentelle) Art und Weise (so bezieht sich zum Beispiel das Taklil-Motiv auf Schwäche und Stärke zugleich und verweist somit auf notwendige Flexibilität). Die Motive ähneln eher Psychogrammen, die auf visueller und räumlicher Ebene psychische Prozesse grafisch wiedergeben. Sprache als nicht-visuelles Ausdrucksmittel folgt diesem „psychogrammatischen“ Mechanismus. Oft weisen die psycho-körperlichen Wahrnehmungen Analogien mit Körperbewegungen in der Raum-Zeit auf. Mentale Erfahrung und Aktivität, Vision und räumlicher Ausdruck treten gemeinsam in Erscheinung. Es geht nicht darum, die Welt zu repräsentieren, sondern die Welt im Leben zu meistern, unvermittelt und erfahren. Innerhalb jeder Gemeinschaft standen die Bakhnougs der Weberinnen miteinander im Austausch, da diese Kleider/Kunstwerke im öffentlichen Raum getragen wurden.

Paul Vandenbroeck, Kurator am Royal Museum of Fine Arts, Antwerpen, und Mitglied der Recherchegruppe IMMRC, KULeuven, beschäftigt sich seit 1991 mit nordafrikanischer Textilkunst. Er ist als Ikonograf ausgebildet und spezialisiert auf die spätmittelalterliche figurative Kunst der Niederlande.

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