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Interviews

2019

Jeewi Lee

Zwischen künstlerischer Praxis und lokalem Produktionskontext

Im Rahmen seiner Masterarbeit über die Einflüsse lokaler Gegebenheiten auf die künstlerische Produktion in Artist Residencies, interviewte Davood Madadpoor die Künstlerin Jeewi Lee, Villa Romana-Preisträgerin 2018, mit Rückblick auf ihren elfmonatigen Aufenthalt in Florenz.

Davood Madadpoor ist Absolvent in Curatorial Studies an der Accademia di Belle Arti di Firenze.


Während deiner Zeit als Stipendiatin in der Villa Romana hast du offensichtlich ein neues Gefühl von Freiheit entdeckt und durch die Auseinandersetzung mit der Renaissanceästhetik auch eine neue Sensibilität entwickelt. Wie denkst Du darüber?

Ich war weit weg von zu Hause und wurde aus meinem Alltagsleben herausgerissen, sodass ich über viel Zeit und Freiheit verfügte. So ein Gefühl hatte ich schon lange nicht mehr. Ich nahm die Zeit bewusst wahr und lauschte dem Ticken der Uhr. Dank dieses Zustands war ich offen für viele neue Dinge. Ich verspürte eine große Neugier und nahm Dinge wahr, für die ich sonst in einer hektischen Metropole wie Berlin keine Zeit gehabt hätte.
Was das Materialbewusstsein betrifft. Es geht um etwas, das man berühren kann, um Haptik, Oberflächen und Strukturen. Da die Kunstwelt immer konzeptueller und virtueller wird, war es paradoxerweise eine anregende und bereichernde Erfahrung, mich einer Kultur anzunähern, die der Patina noch einen Wert beimisst, der Vergangenheit verhaftet ist und sich durch ein ausgeprägtes Gefühl für Farben und Oberflächenstrukturen auszeichnet. Obwohl der Stolz (oder sogar die Überheblichkeit) der Italienerinnen und Italiener in Bezug auf ihr kulturelles Erbe und ihre Geschichte manchmal etwas befremdend war, war ich davon auch fasziniert. Dies hängt wahrscheinlich mit meinen persönlichen Erfahrungen zusammen, da ich mich in meiner künstlerischen Praxis mit Spuren auseinandersetze und aus einem Land (Südkorea) komme, in dem der Grundsatz gilt, dass alles Neue besser ist. In Deutschland, wo ich lebe, wird die Vergangenheit dagegen oft mit Leid assoziiert.

Wenn ich Ashes to Ashes, 2019, betrachte, fällt mir auf, dass du mutiger geworden bist in Bezug auf deine Ausdruckssprache und dein Gespür für politische und kulturelle Zusammenhänge im Material. Was denkst du darüber?

Das Zusammenspiel aus Umfeld (Florenz, Toskana) und Institution, aber auch die Abgeschnittenheit von meinem Alltagsleben und die Einsamkeit oder Entfremdung zu Beginn meines Residenzaufenthalts, waren eine hilfreiche Erfahrung und prägten meine nachfolgenden Arbeiten auf indirekte Weise.
Ich sage indirekt, da es sich nicht um etwas handelt, was in meinen neuen Projekten auf den ersten Blick wahrnehmbar und unmittelbar sichtbar ist. Vielmehr änderte sich mein Bewusstsein in Bezug auf bestimmte Themen. Diese Veränderungen vollziehen sich auf einer subtilen, unterschwelligen Ebene, und entwickeln sich hoffentlich noch weiter.
Ich fühle mich bis zu einem gewissen Grad verantwortungsbewusst, konzentriere mich aber nicht darauf, mich politisch einzubringen. Ich interessiere mich stärker dafür, dass meine Kunst Fragen aufwirft sowie die Wahrnehmung und das Bewusstsein der Menschen schärft oder inspiriert.

Du hast erwähnt, dass du "hier deine produktivste Zeit verbracht hast"? Wie hat sich dies auf deinen Werdegang ausgewirkt?

In der Villa Romana habe ich anhand der Philosophie und des Konzepts der Institution sehr viel in Bezug auf politische Fragestellungen mitgenommen. Während dieses Jahres boten sich mir auch zahlreiche Möglichkeiten, neue Künstlerinnen und Künstler, Theoretikerinnen und Theroretiker und Kuratoreninnen und Kuratoren kennenzulernen sowie mit diesen zu diskutieren und aktuelle politische Themen zu erörtern. Die Anregungen hierzu gingen größtenteils von Angelika Stepken, der Direktorin der Villa Romana, aus.
Was meine Karriere (ich mag das Wort nicht) betrifft: Es war nicht so, dass ich nach meinem Residenzaufenthalt nach Berlin zurückkehrte und erwartete, alle Türen stünden mir offen oder dass mich die Leute mit offenen Armen empfangen und mir neue Möglichkeiten eröffnen würden. Nach fast einem Jahr aber zahlten sich gegen Ende 2019 die Kontakte langsam aus, die ich während meines Residenzaufenthalts geknüpft hatte, oder Kuratoreninnen und Kuratoren, die meine Projekte verfolgten, begannen, mich einzuladen. Arbeiten, die ich in der Villa Romana initiierte, entwickeln sich weiter.

Auf welche Weise beeinflusst die Abwesenheit im Zuge des Residenzaufenthalts die Kontakte zu den Künstlern und Künstlerinnen im gewohnten Umfeld zuhause?

Für eine Künstlerin /einen Künstler beschränkt sich der Job des Künstlerseins meist nicht auf das Kunstwerk selbst. Diese Tätigkeit enthält automatisch auch eine soziale Komponente. So geht man zu Ausstellungseröffnungen oder nimmt an der Geburtstagsfeier von Kuratorinnen und Kuratoren teil. Eine Residency bietet die beste Entschuldigung für dein Fernbleiben. Es fehlt einem an nichts, man vermisst auch nicht das alltägliche Atelierleben, da man nicht nur viele neue Leute trifft und Erfahrungen macht, sondern auch sich selbst besser kennenlernt.

Wie würdest Du eine künstlerische Arbeit bewerten, die während einer Künstlerresidenz realisiert wurde. Handelt es sich um einen verortbaren Prozess oder um ein nomadisches Objekt ohne Ortsbezug?

In meinem Fall beides. Ich arbeite oft an ortsspezifischen Kunstprojekten. Daher habe ich einige Arbeiten realisiert, die an den Ort gebunden sind, was eine gängige Praxis für mich ist. Ich habe aber auch einige Arbeiten ausgeführt, die sich zu jedem beliebigen Ort transportieren lassen.
Als ich meinen Aufenthalt in der Villa Romana begann, wusste ich, dass ich in Florenz einige Ausstellungen oder Arbeiten für andere Institutionen vorbereiten muss. Diese wurden folglich in einem wirklich nomadischen Modus realisiert.
Während meines Aufenthalts in der Toskana näherte ich mich stärker der Natur an und mein Interesse für historische Ereignisse wurde geweckt. In meiner Praxis manifestieren sich jedoch zwei wichtige Einflüsse: Materialbewusstsein und poetische Gesinnung. Vorher war meine Arbeit weitaus rationaler geprägt. Hier liegt der größte Unterschied zwischen Deutschland und Italien. Die deutsche Mentalität ist sehr rational. Ich nahm die italienische Mentalität als poetischer und emotionaler wahr. Ich ziehe jedoch keine der anderen vor, auch wenn dieser zweite Aspekt wesentlich zu meiner Bereicherung beitrug.
Ich denke, dass mich das neue Umfeld beeinflusst hat – was mir an jedem anderen Ort auch passiert wäre –, und dies in Arbeiten wie Incision, 2018, Impianto, 2018, und Ashes to Ashes, 2019, zum Ausdruck kommt.

Die letzte Frage. Was möchtest du den künftigen Stipendiateninnen und Stipendiaten mit auf den Weg geben?

Ich würde diesen Ort als heilig beschreiben und empfehlen, ohne mentale und kreative Altlasten hierher zu kommen und offen zu sein für das, was sich ereignet oder was einem der Residenzaufenthalt im Hinblick auf neue Perspektiven, Ideen und Wahrnehmungen bietet. Und dann sind da noch die Stadt und die Toskana. Obwohl man das Gefühl haben könnte, eine ruhige Zeit in der Villa Romana zu verbringen, muss ich sagen, dass alle Menschen, denen ich während meines Aufenthalts begegnet bin, Einfluss auf mein Leben und meine künstlerische Praxis ausgeübt haben, was ich sehr zu schätzen weiß. Viele neue Türen haben sich mir auf diese Weise geöffnet. In Anbetracht meiner persönlichen Erfahrungen empfehle ich anderen, offen für neue Begegnungen und Zufälle zu sein, da Überraschungen eine neue, unbekannte Seite in einem selbst zum Vorschein bringen, wofür ich sehr dankbar bin.

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