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Interviews

2015

Roberto Ohrt

Eine unbekannte Sprache der Bilder

Der Mnemosyne-Bilderatlas von Aby Warburg ist wohl eines der wenigen kunsthistorischen Werke, das mehr Beachtung auf dem Gebiet der Kunst als auf dem der Wissenschaft fand. Letztes Beispiel in einer langen Reihe: der italienische Pavillon während der diesjährigen Biennale di Venezia. In Räumen der Erinnerung reagierten Künstler wie Vanessa Beecroft, Mimmo Paladino oder William Kendridge auf das Werk des Hamburger Kulturhistorikers. Nicht anders, nur weniger spektakulär vor gut fünfzig Jahren: Als niemand in der Kunstgeschichte Interesse an diesem ungewöhnlichen Instrument zeigte, war ein Künstler schon auf dessen Spur. Ron B. Kitaj ließ sich Anfang der 1960er Jahre im Warburg Institute die Fotos vorlegen, denen wir die Überlieferung der 63 Tafeln verdanken, keine besonders großen Abzüge, aber mit einer Lupe ist darauf doch allerhand zu erkennen, mehr jedenfalls als auf den Illustrationen, die Jahre später einige Tafeln erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zur Kenntnis brachten (in: Ernst Gombrich, Aby Warburg – An Intellectual Biography, London 1970). Selbst das größere Format der Publikationen, die seit 1994 den gesamten Atlas zum Gegenstand hatten, führt den Betrachter vor einen grobmaschigen Rasterfilm, will er der Sache im Detail nachgehen.


Die Reise in die Details ist mittlerweile etwas leichter geworden (s. engramma.it, warburg.library.cornell.edu oder peter-matussek.de), obwohl die Skepsis im Fach nicht weichen will. Bis in die 1990er Jahre hinein ignorierten viele Kunsthistoriker den Atlas oder taten ihn sogar als einen misslungenen Versuch ab, allen voran Ernst Gombrich, der langjährige Direktor des Warburg Institutes. So blieb es Künstlerinnen und Künstlern überlassen, das Potential des Werks zu erkennen, und trotz schlecht lesbarer Abbildungen konnten sie die Modernität der Sache sichtbar machen, das assoziative Element und die Nähe zur Montagetechnik. Das ist eine überraschende Bestätigung, lag das Zentrum des Anliegens von Warburg doch in der Renaissance, also möglicherweise bei den Idealen des 19. Jahrhunderts. Gombrich und viele andere Kunsthistoriker hätten diesen Eindruck ohne Umschweife bestätigt. Sie versuchten (und versuchen immer noch) seine Methode der Blütezeit eines feudal-bürgerlichen Kanons zuzuschlagen, ob nun anhand einiger Zeilen aus seinen Schriften oder als Interpretation seiner Haltung am Schirm einer Schreibtischlampe. Dass Warburg die engen Grenzen des Fachs in voller Absicht und in jeder Richtung überschritt, im Atlas sogar bis auf das Gebiet der Massenmedien und der Werbung, wird ihm offenbar noch immer nachgetragen.
Warburg entwickelte in der Mnemosyne nicht nur eine Konfliktgeschichte der Kunst; er war selbst eine Konfliktfigur, eine Erscheinung mit vielen Gesichtern, einerseits der alten Welt zugewandt, anderseits der Moderne, im reichen Zentrum der Macht beheimatet und dennoch den alten Kulten am trostlosen Rand der Welt verbunden, gleichermaßen getrieben vom Wunsch nach Besonnenheit und von der Lust an ungebundener Bewegung. All diese Facetten treten allmählich deutlicher hervor. Nur die Einschätzung des Atlas soll offenbar bei einem diffusen Eindruck stehen bleiben, ob nun zugunsten einer künstlerischen Faszination, die sich an einem metamorphotischen Wesen des Ganzen erfreut, ohne es genauer zu kennen, oder eines wissenschaftlich begründeten Vorbehalts, der dem überlieferten Zustand des Atlas Beliebigkeit unterstellt. Demnach hätte die Konstellation des Bildgefüges sich bei der nächsten Gelegenheit schon wieder verändert; Warburg – so der Vorwurf – wäre mit seiner Erfindung nie zu einem publizierbaren Ende gekommen. Und daher muss die Wissenschaft wohl den schlechten, aber gerechten Stand bewahren, in dem sie selbst das Werk der Öffentlichkeit vorgestellt hat.

Die künstlerische Faszination brachte dem Atlas sicherlich mehr, doch nur auf gute Absichten zu bauen, wäre fatal, da der geschätzte Wert – das Element der Bewegung und Verwandlung – unter diesen Umständen schnell an Kraft verliert oder sogar dem Argument der Skeptiker in die Hände spielt. Bewegbarkeit, Vieldeutigkeit und Veränderung sind ohne Zweifel die entscheidenden Merkmale des Bilderatlas, und Warburg bringt sie zur Darstellung: er kennt ihre Wirkung, verschärft ihren Auftritt und präzisiert ihren Ausdruck. Je deutlicher die Bedeutung eines einzelnen Bildes im Gefüge einer Tafel bestimmt wird, desto klarer werden die Gedanken, denen Warburg im Weg durch die Bilder und durch ihre Formen nachgeht. Glücklicherweise hat er drei verschiedene Zustände seiner Bildgeschichte dokumentieren lassen, und der Vergleich lässt eindeutig erkennen, dass mit jedem Schritt das Bedeutungsgeflecht seiner Konstellationen sich verdichtet, Warburg also keineswegs dem endlosen Spiel eines Kaleidoskops verfallen war.

Der Beitrag der Kunstgeschichte ist insofern unumgänglich, doch nicht einer schönen Kenntnis der Fakten zuliebe. Für diese andere Anwendung des Wissens gibt es bei Warburg verschiedene Hinweise. Zum einen interessierten ihn Konflikte und nicht der Erfolg; er ging also aus der etablierten Hochrenaissance zurück in die Epoche, in der sie sich formierte und keineswegs klar war, dass sie ihre Werte durchsetzen würde. Diese Werte wiederum sah Warburg vor allem mit einer Frauenfigur verbunden, der leichtfüßig eilenden Nymphe, und mit dem Problem des Opfers, das sie auf ihrem Kopf oder in den Armen trägt oder mit dem Schwung ihrer Bewegung niederwirft. Die christliche Kunst hatte die Frau zur Unbeweglichkeit verdammt und nicht nur ihren Körper zu einem Opfer gemacht; das Leben der Menschen war auf dieser Basis insgesamt dem Verzicht unterworfen. Heute steht die Logik der Asymmetrie mehr denn je in Frage, und insofern ist es nicht nur wichtig zu wissen, wie die Renaissance, das bedeutendste und erfolgreichste Vorspiel der Moderne, im Detail konstruiert war, zumal unsere Zeit auf dieser Grundlage steht. Entscheidend wird vielmehr sein, ob die Auflösung der weiblichen Unbeweglichkeit zu einer Auflösung des Opferkults überhaupt ausgeweitet werden kann; entscheidend auch für die Rolle des weiblichen Körpers, denn Opferkulte – das zeigt sich überall in der modernen Bilderwelt – beherrschen die Produkte der Massenkultur und blühen vor allem dort auf, wo die Befreiung der Geschlechter aus den vorgeschriebenen Bewegungsmustern die Grundlage der bestehenden Gesellschaft und der Notwendigkeit von Herrschaft ins Wanken gebracht hat.


Roberto Ohrt, geboren 1954 in Santiago de Chile, lebt in Hamburg, publiziert über zeitgenössische Kunst, die Geschichte der Moderne und deren Vorgeschichte, organisiert Ausstellungen und ist Mitbegründer des 8. Salon (www.8salon.net), einer Plattform, in der seit 2012 der Bilderatlas von Aby Warburg erforscht und der Öffentlichkeit vorgestellt wird.

Der 8. Salon, vertreten mit Philipp Schwalb, Axel Heil, Christian Rothmaler und Roberto Ohrt, präsentierte vom 01. - 04.10.2015 in der Villa Romana eine detaillierte Lektüre von 22 (der insgesamt 63) Tafeln des Mnemosyne-Bilderatlas von Aby Warburg. Die Tafeln waren bis zum 16. Oktober in rekonstruierter Originalgröße in den Ausstellungsräumen der Villa Romana zu sehen.

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